News von der Glarner reformierten Landeskirche

«Aus der Bibel kann man die Menschheitsgeschichte lesen»

min
17.04.2018
Für den Zürcher Anthropologen Carel van Schaik ist die Bibel ein Protokoll der menschlichen Evolution. Sie gibt Antworten darauf, wie man Katastrophen vermeidet.

Herr van Schaik, Sie haben Ihr Buch «Tagebuch der Menschheit» genannt. Ist die Bibel ein Geschichtsbuch?
Ja, denn aus der Bibel kann man die Menschheitsgeschichte lesen. Sie ist ein Spiegelbild der kulturellen Evolution der Menschheit. Die Bibel ist ein wunderbares Buch, das man auch historisch lesen kann, so wie ich es tue. Ich habe aber überhaupt nichts dagegen, wenn jemand die Bibel als religiöses Buch lesen will. «Das Tagebuch der Menschheit» will keine Religionskritik üben. Das Buch nimmt der Religion nichts weg, vielmehr soll es eine Bereicherung für Kultur- und Religionsinteressierte sein.

Ist die Bibel also kein moralisch-religiöses Buch?
Ja und nein. Das Alte Testament ist eher eine Gebrauchsanleitung zur Vermeidung von Katastrophen. Spiritualität findet man darin nicht. Es geht um handfeste Regeln des Zusammenlebens. Die Menschen waren zu den Zeiten des Alten Testamentes konfrontiert mit Krankheiten, Seuchen und sozialer Ungleichheit, die sie sich zu erklären und zu vermeiden versuchten. Ihr Erklärungsmodell, die Bibel mit dem monotheistischen Gott, war neu und einzigartig. Wenn ein Unglück, beispielsweise ein Erdbeben, geschah, nahmen die Menschen an, dass Gott erzürnt war. Sie überlegten sich, was sie falsch gemacht hatten, und suchten Lösungen, um solche Szenarien künftig zu vermeiden.

Ihre These lautet: Die Bibel verarbeitet das grosse Trauma der Menschheit, als die ehemaligen Jäger und Sammler sesshaft und zu Ackerbauern wurden.
Im Paradies lebten die Menschen als Jäger und Sammler fast wie im Schlaraffenland. Es gab von allem genug. Sie kannten kein Privateigentum, lebten in kleinen Gruppen und hatten wechselnde Partner. Mit der Vertreibung aus dem Paradies, dem Garten Eden in Mesopotamien, fing für die Menschen ein mühsames und arbeitsreiches Leben an, das die Vergangenheit paradiesisch erscheinen liess, auch wenn das vermutlich übertrieben war. So erzählt die Genesis den historischen Übergang von den Jägern und Sammlern zu den sesshaften Ackerbauern. Nach der Vertreibung aus dem Paradies brauchten die Menschen eine «Survival-Anleitung», um mit der neuen Situation zurechtzukommen.

Wie veränderte die Sesshaftigkeit das Leben der Menschen? 
Denken sie nur an Kain und Abel. In dieser Geschichte geht es letztlich um Privateigentum und Konkurrenz unter Brüdern, um das Erbe. Das war neu und kannten die Menschen vorher nicht. Es waren harte Zeiten damals. Es drohten Überschwemmungen und Dürren, Krankheiten, soziale Ungleichheit, Unrecht und Kriege. Der Ackerbau erlaubte es aber, mehr Menschen zu ernähren, als es die Jäger und Sammler konnten. Als Folge davon wurden mehr Kinder geboren und die Bevölkerung wuchs. Die Sesshaftigkeit auf kleinem Raum erforderte neue Regeln, um das Überleben der Gruppen nachhaltig zu sichern.

Etwa die Zehn Gebote?
Ja, die Verbote von Ehebruch, Diebstahl und Mord dienten dem friedlichen Zusammenleben unter den neuen Bedingungen. Die Zehn Gebote sind nur ein ganz kleiner Teil der Regeln, welche die jüdische Thora in den fünf Büchern Mose aufstellt. Überlebenswichtig waren neben den sozialen vor allem auch die hygienischen Gesetze. Die Reinheitsregeln können das Ausbrechen von Krankheiten dort verhindern, wo sich viele Menschen einen engen Lebensraum teilen und auch von kranken Haustieren Gefahr ausgeht.

Zeigten die neuen Regeln Wirkung? 
Mehr oder weniger schon, wie aus dem Beispiel hervorgeht. Man versuchte die sozialen Regeln zu befolgen. Katastrophen wie Epidemien oder beispielsweise das Ausbleiben von Regen wurden darauf zurückgeführt, dass die Menschen die gottgewollten Gebote missachteten. Das war Ansporn genug, diese zu befolgen. Man vermied aber Katastrophen auch immer noch dadurch, dass man versuchte, Gottes Wohlwollen zu gewinnen. Dazu gehörte die Opferung von Tieren. 

Die Bibel beschreibt die Lösung von Problemen. Ist sie nicht manchmal selbst das Problem?
Als die Bibel geschrieben wurde, waren ihre Lösungsansätze die damals bestmöglichen. Die Bibel wird nur dann zum Problem, wenn Menschen felsenfest davon überzeugt sind, dass Lösungen, die vor 2500 Jahren angebracht waren, auch heute noch buchstabengetreu umgesetzt werden müssen. 

Das Alte Testament sorgt sich vor allem um das Gedeihen des Volkes Israel. Was hat es dem Individuum zu bieten?
Das Alte Testament hat das Wohlergehen der ganzen Gesellschaft im Fokus, nicht dasjenige des Einzelnen – das kommt erst später. Wer krank wurde, konnte im Alten Testament nicht mit Mitleid oder fürsorglicher Pflege rechnen. Er galt als von Gott bestraft und wurde bestenfalls unter Quarantäne gestellt, im schlechteren Fall verstossen. Für das urmenschliche Mitgefühl hat es wenig Platz im Alten Testament. 

Wie konnte die Bibel trotzdem ein Erfolg werden?
Weil sie soziale Gleichheit predigte. Diese ist das Fundament des Neuen Testaments. Dort ist der Gott freundlich und straft nicht. Geurteilt wird über einen Menschen erst ganz am Schluss, vor dem jüngsten Gericht. Gerechtigkeit, Solidarität und Mitgefühl sind sehr wichtig für uns Menschen, damit wir uns wohlfühlen und es uns gut geht. Dies haben spätere Autoren der Bibel irgendwie erkannt.

Was brachte das Neue Testament sonst noch hervor? 
Eindeutig die mit dem Monotheismus verlorengegangene Spiritualität. Nach der Abschaffung des Ahnenkultes fehlte den Menschen etwas. An wen konnten sie sich noch wenden? Die Antwort der Bibel ist der personifizierte Gott des Neuen Testaments, mit dem man reden kann. Jesus ist als Gottes Sohn die Galionsfigur und prägende Persönlichkeit der christlichen Bibel.

War Jesus, wie man heute sagt, ein «Trend-Scout»?
Jedenfalls hat er einen Lebensstil wiederentdeckt, der im Einklang mit der menschlichen Natur ist und den wir während zwei Millionen Jahren führten: Das soziale Miteinander der Jäger und Sammler. Man teilt sich alles in kleinen sozialen Gruppen und kennt keinen Privatbesitz. Alle sind absolut gleich: Jesus wusch seinen Jüngern die Füsse. Diese Lebensform mit allen ihren Auswirkungen ist auch heute noch tief in unseren Genen verankert. Mit seiner Jäger-und-Sammler-Mentalität entspricht Jesus nicht einer vorübergehenden Mode, sondern trifft den Nerv der menschlichen Natur punktgenau. Deshalb entsprach die Jesusbewegung, ich nenne sie gerne «Jäger und Sammler 2.0», damals wie heute einem Bedürfnis und konnte zu einem weltumspannenden Erfolg werden. Jesus’ Nachfolger, Paulus, machte das Christentum zu einer sehr erfolgreichen sozialen Bewegung. Das ist das eigentliche Geheimnis des Erfolges der Bibel. Wir dürfen nicht vergessen: Heute leben auf der Erde mehr als zwei Milliarden Christen.

Was können wir heute von der Bibel lernen?
Wenn wir sie lesen, können wir die menschliche Natur verstehen. Sie ist ein Buch mit einer Fülle von Informationen über unser Leben und unser Zusammenleben. Nicht vergessen dürfen wir, dass die Bibel vielenorts die Grundlage für das gesellschaftliche und politische System in der westlichen Welt bildet. Natürlich kann man die Bibel auch als religiöses Buch lesen.

Was verdanken wir heute der Bibel?
Das kritische Denken gehört dazu. Die Logik des Monotheismus und die damit verbundene Diskussionskultur führten mit dazu, dass die Wissenschaft entstanden ist und heute viele Probleme gelöst hat, welche früher die Religion erklärte. Weil die monotheistische Religion so erfolgreich ist, hat sie sich teilweise überflüssig gemacht. Doch in letzter Konsequenz bleiben viele Fragen von der Wissenschaft unbeantwortet.

Sie sind Agnostiker. Wie objektiv konnten Sie beim Schreiben des Buches sein? 
Die Frage nach Gott kann und will ich nicht beantworten. Ich bin in erster Linie Naturwissenschaftler und werte die Bibel nicht.

Philippe Welti, kirchenbote-online, 17. April 2018

Unsere Empfehlungen

69-Jährige im neuen Look

69-Jährige im neuen Look

Das «Wort zum Sonntag» gehört zu den ältesten Sendungen von SRF. Jetzt wurde ihr Auftritt optisch überarbeitet. Über die alte Sendung in neuem Glanz.
«Ich hätte das nicht für möglich gehalten»

«Ich hätte das nicht für möglich gehalten»

Seit einem Jahr herrscht Krieg in der Ukraine. Aus diesem Anlass rufen die Kirchen in der Schweiz zum Gebet auf. Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche der Schweiz (EKS), über die Zeitenwende, das Gebet und den Einsatz von Waffen.
Ein moderner Ablasshandel?

Ein moderner Ablasshandel?

Kabarettistin und Slam-Poetin Patti Basler über Spenden, Steuern und den letzten Urnengang. Absolution gebe es nicht, sagt die Schweizer Sprachkünstlerin, weder von der Kirche noch von Mutter Erde.