News von der Glarner reformierten Landeskirche

Leonardos Geheimnis

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23.05.2019
Vor 500 Jahren starb Leonardo da Vinci. Die Welt feiert das Genie wegen seiner Unabhängigkeit und seiner Distanz zur Kirche. Dabei war Leonardo durchaus gläubig, sagt der Historiker Klaus-Rüdiger Mai. Er hat weitere Geheimnisse des Künstlers entdeckt.

Herr Mai, der Titel Ihres Buches lautet «Leonardos Geheimnis». Was ist das Geheimnis von Leonardo da Vinci?
Diese Frage werde ich Ihnen mit Sicherheit nicht beantworten. Kein Krimiautor würde den Täter schon vorher verraten. Nur so viel: Leonardo da Vinci hatte schon von Anfang an die Nachwelt im Blick und arbeitete an seiner Legende. Sobald wir über ihn schreiben, laufen wir unweigerlich in seine Falle. Mit diesem Wissen gelingt es, sich Leonardos Geheimnis zu nähern.

Heute feiern wir ihn als Genie der Renaissance, als eigenständigen Menschen. Ist dies auch eine Legende?
Leonardo war sicher eine Persönlichkeit mit einer sehr eigenständigen Denkweise, die aber in seiner Zeit nicht so aussergewöhnlich war. Die Renaissance war vielgestaltiger und facettenreicher, als wir uns dies vorstellen. Leonardo konnte kein Latein und nicht am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen, der in Lateinisch geführt wurde. Der deduktive, spätscholastische Erkenntnisweg, der sich auf Autoritäten wie Aristoteles stützte, war ihm deshalb verwehrt. Das war ein Segen. Leonardo musste auf eigene Beobachtungen, auf Messungen und auf Experimente setzen, wie dies hundert Jahre später Johannes Keppler tat. Diese naturwissenschaftlichen Verfahren wendet Leonardo bereits an.

Leonardo musste sich ein eigenes Bild von der Welt machen?
Ja, darauf beruht auch seine immer wieder angezweifelte Religiosität. Für ihn ist es klar, dass Gott die Welt geschaffen hat. Er will das Buch der Schöpfung lesen, er will verstehen, wie alles zusammenhängt. Da ist er ganz ein Kind seiner Zeit, die Dinge müssen alle einander entsprechen: Das Grosse entspricht dem Kleinen, der menschliche Körper dem Bau der Welt.

Oftmals wird Leonardo als Atheist dargestellt. Ist dies falsch?
Ja. Im späten Mittelalter gab es keine echten Atheisten. Die Vorstellung, dass es keinen Gott gibt, lässt sich in dieser Zeit nicht verifizieren. Man darf jedoch den Glauben nicht mit der Haltung zur Kirche verwechseln. Leonardo hatte eine distanzierte, kritische Haltung zur Kirche, die zu seiner Zeit eine militärische und politische Macht darstellte und Kriege führte. Leonardo war grundsätzlich skeptisch, im Grunde seines Herzens hielt er den Menschen für eine Bestie.

Zeigt sich Leonardos Religiosität in seinen Bildern? Gewisse Wissenschaftler behaupten, seine Gemälde seien lediglich Auftragsarbeiten.
Natürlich sind es Auftragsarbeiten. Auch ein Künstler muss Geld verdienen. Wir kennen ja nicht das gesamte Werk von Leonardo. Die damaligen Werkstätten produzierten vom Kerzenständer bis hin zu den Porträts vieles. Heute sind vor allem jene Werke erhalten, die in den Kirchen und den Palästen des Adels hingen. Vieles, das bei den reichen Bürgern hing, ist nicht mehr vorhanden. Bei Auftragsarbeiten malten die Künstler Standardmotive wie etwa Maria mit dem Jesuskind, die Kreuzigung oder die Heiligen Drei Könige. Die Maler dieser Zeit erzählten diese Motive auf ungeahnte Art und Weise neu. Da zeigte sich das Genie eines Künstlers.

Auch bei Leonardo da Vinci?
Ja. Bei seiner Abendmahlsdarstellung erzählt er nicht die Geschichte der Eucharistie, sondern etwas Ungeheuerliches: Den Verrat.

Wie Judas Jesus verriet?
Ja, mit diesem Verrat interpretiert Leonardo die Szene des Abendmals.

Hat dies mit der Lebensauffassung von Leonardo zu tun? Er brach seine Zelte oft ab und trat seinen Dienst bei einem neuen Fürsten an.
Leonardo erzählt, wie der Verrat zur menschlichen Existenz gehört und wie dieser Jesus zu Christus macht. Jesus hat gerade seinen Jüngern erklärt, dass ihn einer von ihnen verraten wird. Erschreckt weichen die Jünger zurück, Jesus ist alleine und isoliert. Petrus fordert den Lieblingsjünger Johannes auf, Jesus zu fragen, wer der Verräter sei. Seine Hand hat das Messer ergriffen. Petrus könnte Judas, der neben ihm sitzt, niederstechen. Leonardo erzählt in seinem Gemälde, wie die Jünger auf zwölf verschiedene Arten mit dem Verrat umgehen, und somit etwas über die menschliche Existenz.

Judas sitzt mitten unter den Jüngern?
Leonardos Judas sitzt nicht alleine auf der anderen Seite des Tisches, zuweilen mit einem Teufelchen auf der Schulter, wie es die Tradition zeigt. Sein Judas sitzt mitten unter den Jüngern, in nächster Nähe zu Jesus, weil der Verrat niemals von aussen kommt.

Was ist die Botschaft des Gemäldes?
Leonardo wollte keine Botschaft vermitteln. Er wollte die Situation so erzählen, dass sie in unser Leben spricht. Hätten die Bilder eine klare Botschaft, dann wäre ihre Wirkung über die Jahre schon lange verblasst. Die Stellung von Judas zeigt Leonardos pessimistische Weltsicht, dass der Verräter nicht von aussen, sondern von innen kommt. Das war ein Teil von Leonardos Wesen. Leonardo war im Gegensatz zu Michelangelo kein bärbeissiger, tyrannischer Charakter. Er war humorvoll und herzlich, liebte den grossen Auftritt in der Schar seiner Freunde und Schüler und stand offen zu seiner Homosexualität. Er zog sich aber auch gern in die Einsamkeit zurück. In Ruhe wanderte er tage- und wochenlang durch die Landschaft und beobachtete den Flug der Vögel, den Sonnenaufgang und das Fliessen des Wassers.

Leonardo da Vinci war homosexuell und sezierte Leichen. Beides galt zu seiner Zeit als Todsünde. Warum wurde er nicht hingerichtet?
Wir denken von der Renaissance und dem Mittelalter in Schwarzweissbildern. Damals galt: wo kein Kläger, ist kein Richter. Homosexualität, damals als Sodomie verrufen, war verboten. Leute wurden dafür in einigen Gegenden hingerichtet, in anderen zu Geldstrafen verurteilt, andernorts wieder gar nicht verfolgt. Leonardo, der seine Homosexualität nie verheimlichte, bekam keine Probleme. Er war eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Er war auffallend und sauber gekleidet. Er war Vegetarier und legte Wert auf Hygiene. Andererseits stocherte er in den Eingeweiden der Toten. Solche Widersprüche waren in der Renaissance nichts Aussergewöhnliches. Die Normierung nahm erst mit der Verbürgerlichung nach der Reformation zu.

In diesem Jahr wird Leonardo da Vinci als Genie und moderner Mensch gefeiert. Stimmt diese Auffassung?
Wir feiern natürlich unser Bild von Leonardo. Etwas anders können wir nicht. Leonardo machte sich schon zu seinen Lebzeiten zu einer Legende. Und die Legende wurde über die Jahre grösser. Es gibt heute die aberwitzigsten Geschichten über ihn. Das reicht vom Da Vinci-Code, der in seinen Bildern stecken soll, bis hin zur Idee, dass er die weibliche Malerei begründete. Leonardo hat zwar einige Frauenporträts gemalt. Doch solche Vorstellungen sind dem Zeitgeist geschuldet.

Was kann uns der Künstler Leonardo da Vinci sagen?
Heute ist die Welt unübersichtlich und kompliziert geworden, wir können vieles nicht verstehen. Wir brauchen für alles einen Experten. Deshalb gibt es die enorme Ratgeberliteratur. Unsere Expertengläubigkeit ist genau das Gegenteil zum Verständnis von Leonardo, der selber denken, selber suchen und sich selber ein Bild von den Dingen machen wollte. Leonardo hielt den Universalismus hoch, den wir vollkommen verloren haben. In diesem Sinn ist Leonardo eine Provokation und ein gutes Korrektiv. Auch wenn heute der Wissensstand enorm ist, so haben wir Menschen die Fähigkeit und die Vernunft, um uns mit allem zu beschäftigen und alles zu prüfen. Das dürfen wir nicht unterschätzen. 

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 23. Mai 2019

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