News von der Glarner reformierten Landeskirche

Der Wunsch zu schreien

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03.10.2022
Mit Gedichten reagiert die Lyrikerin Halyna Petrosanyak auf den Krieg in der Ukraine. Zwei davon haben Eingang ins Basler Gebetbuch gefunden. Petrosanyak über Poesie und Putins Machenschaften.

Halyna Petrosanyak steht vorne im Chor der Basler Peterskirche und liest:

«Heute / gab es einen Ostergottesdienst, / unsere Ostern, / in der Kirche von einem fremden Land. / Hinter meinem Rücken / sagte plötzlich eine Frau / zu einer anderen: / ‹Ich komme aus Butscha.›»

In der grossen Kirche wirkt die Lyrikerin klein, geradezu zerbrechlich. Ihre Stimme jedoch ist klar, manchmal verrät ein leichtes Zittern, wie emotional dieser Moment für sie ist.

Halyna Petrosanyak ist eine der bedeutendsten Lyrikerinnen der Ukraine. 1969 wurde sie im Dorf Tschweremoschma in den Karpaten geboren. Sie studierte Russisch und Deutsch. 1996 erschien ihre erste Gedichtsammlung «Park am Hang». 2007 erhielt sie den Hubert-Burda-Preis für junge osteuropäische Lyrik. Der Liebe wegen zog die Lyrikerin in die Schweiz.

Ukraine ist ein eigenes Land
Zwei ihrer Gedichte haben Eingang gefunden in ein Gebetsbuch, das mit Beiträgen von Ukrainerinnen und Ukrainern jüngst erschienen ist. Sie habe einfach reagiert auf das, was in Butscha geschehen ist, erzählt Petrosanyak. «Die Ermordeten waren meine Landsleute. Was da passiert ist, ist unglaublich. Mein Gedicht ‹Ostern› war eine Reaktion darauf. Es war der Wunsch zu schreien.»

Der Westen habe falsche Vorstellungen von der Ukraine, erklärt Halyna Petrosanyak. Während der Sowjetzeit wurden alle 15 Republiken pauschal als Russland bezeichnet. Dabei seien es Staaten mit eigenen Völkern, Sprachen, Kulturen und eigener Geschichte. So auch die Ukraine.

Viele wüssten auch nicht, dass die Probleme zwischen Russland und der Ukraine seit 300 Jahren bestehen. Zar Peter der Grosse hatte Anfang des 18. Jahrhunderts die Kosakenrepublik auf dem Gebiet der heutigen Ukraine mit Zwang ans Russische Reich angegliedert. Über Jahrhunderte wurde die ukrainische Kultur diskriminiert, so Halyna Petrosanyak. Ukrainisch wurde kleingehalten. Wer in der Sowjetunion Karriere machen wollte, musste russisch sprechen. Grosse Teile des Landes im Osten und im Süden wurden russifiziert.

Keine Hoffnung auf baldigen Frieden
Für die Schriftstellerin sind Wladimir Putin und seine Entourage Verbrecher. Das hätte Europa schon früher erkennen können, als Russland Tschetschenien vernichtete. Das Gleiche habe der Kremlchef jetzt mit der Ukraine vor. Deshalb glaubt die Lyrikerin nicht an einen baldigen Frieden. «Wenn das russische Regime nicht fällt, wird es keinen Frieden geben.»

Halyna Petrosanyak will nicht voreilig von Versöhnung sprechen. Dazu müsste Putin um Verzeihung bitten und Russland für die Zerstörung in der Ukraine aufkommen. «Wie sollte Versöhnung anders möglich sein?», fragt sie. Zu russischen Schriftstellerkollegen sucht sie keinen Kontakt. Warum auch? Sie findet, dass weite Teile des russischen Volkes eine Schuld an der Entwicklung tragen. «Seit zwanzig Jahren haben sie Putin immer wieder als Präsidenten gewählt und ihn geduldet.»

In der Schweiz fühlt sich Halyna Petrosanyak wohl. Sie ist beeindruckt von der enormen Solidarität. Das sei nicht selbstverständlich, entsprechend seien die Flüchtlinge dankbar. Sie findet jedoch die Diskussion über die Neutralität heuchlerisch. Die Schweiz pflege wirtschaftliche Beziehungen zu Russland. Da könne man nicht von Neutralität reden, sondern ehrlicherweise von finanziellen Interessen und Abhängigkeiten.

«Der Besuch der alten Dame»
Aber eigentlich wollte sie nicht über den Krieg reden, sagt Halyna Petrosanyak, sondern über ihre Prosa, Romane und die Literatur. Sie öffnet ihre Reisetasche mit ihren Büchern. Sie hat gerade Werke von Rainer Maria Rilke ins Ukrainische übersetzt. Sie schätze den Literaten Friedrich Dürrenmatt. Sein Theaterstück «Der Besuch der alten Dame» zeige, wie rasch Menschen sich korrumpieren lassen und zu Verbrechern werden. Dann liest Halyna Petrosanyak eines ihrer Gedichte vor aus einem Band, der zwei Wochen vor dem Krieg erschienen ist:

«Rechne nicht mit meiner Zerbrechlichkeit, / denn es ist die Brüchigkeit eines Steinbruchs./ Rechne nicht mit meiner Verletzlichkeit, / denn es ist die Verletzlichkeit des Ackers. / Verlasse dich nicht auf die Waffe, / denn mich verwunden kann nur der, der mich liebt.»

Tilmann Zuber, kirchenbote-online

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