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«Materielle Armut ist bewältigbar. Es gibt genügend Geld»

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21.10.2022
Was bedeutet Armut in der reichen Schweiz? In Basel gingen der Soziologe Ueli Mäder und weitere Fachpersonen dieser Frage nach. Sie präsentierten Hürden und mögliche Lösungen. Einig waren sie sich, dass es bei Armut nicht nur um Geld geht, sondern auch um gesellschaftliche Anerkennung.

Im Jahr 2020 waren in der Schweiz 722'000 Menschen von Armut betroffen. Dies entspricht 8,5 Prozent der Bevölkerung. 133'000 von ihnen waren Kinder. Zusätzlich waren 600'000 Menschen armutsgefährdet. 8,2 Prozent aller Erwerbstätigen, 310'000 Personen, waren von Armut bedroht, obwohl sie einer Arbeit nachgingen. Und über 272'000 Personen waren auf Sozialhilfe angewiesen, davon ein Drittel Kinder und Jugendliche. Mit diesen Zahlen eröffnete Aline Masé die Veranstaltung «Weg(e) aus der Armut» in Basel. Masé ist Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik bei der Caritas Schweiz. Die Tendenz dieser Entwicklung sei steigend, sagte Masé.

Moderator Roland Plattner von der Forschungsgemeinschaft «Mensch im Recht», die den Abend gemeinsam mit dem «Forum für Zeitfragen» organisierte, hatte kurz zuvor die Armut in der Schweiz provokant als «Luxusproblem» bezeichnet. «Armut ist bei uns unsichtbar und wir haben ein Wohlfahrtssystem.»

Gleichzeitig betonte Plattner, dass «wir aus unserer beneidenswerten Position aufgerufen sind, strukturelle Armut zu eliminieren» – gemäss der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung, dass «die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Darin waren sich alle Referierenden einig. Neben Masé waren dies der Soziologe Ueli Mäder, Christoph Eymann, Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS, und Claudia Hänzi, Leiterin Sozialamt der Stadt Bern.

Alleinerziehende besonders gefährdet
«Besonders armutsgefährdet sind Alleinerziehende mit Kindern», stellte Aline Masé fest. Weitere Risikofaktoren seien fehlende Bildung, Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeit, schlechte Gesundheit und der eingeschränkte Zugang zu den sozialen Leistungen, insbesondere für Migrantinnen und Migranten, die nicht über einen Schweizerpass verfügen. Armut sei nicht nur eine Frage des materiellen Überlebens. Wer arm ist, sei vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, erklärte Masé. Ihr Fazit: Armut ist ein strukturelles, kein selbstverschuldetes Problem. Sie ist die Folge von ungünstigen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die nur mit politischen Lösungen verändert werden können.

Ueli Mäder beschäftigt sich seit Jahren fast täglich mit den Fragen der sozialen Ungleichheit und leitete mehrere Forschungsprojekte zum Thema. Auch er betonte, dass Armut ein strukturelles Problem sei und es dabei nicht nur um Geld gehe. «Doch wenn wir darauf bauen, dass sich die Strukturen ändern, können wir lange warten.» Mäder plädierte dafür, die soziale Integration zu fördern und individuelle Kompetenzen zu stärken. «Wir müssen materielle Hilfe pauschalisieren und immaterielle differenzieren, das Gelingen hängt vom politischen und unserem gesellschaftlichen Willen ab.»

Wut als Ressource
Der Soziologe hat die Erfahrung gemacht, dass es vielen hilft, offen über ihre Armut zu sprechen. Die Erkenntnis, nicht allein zu sein, könne Resignation in Empörung verwandeln. «Wut ist eine Ressource, an die wir anknüpfen können», sagte Mäder, jedoch nur, wenn man die Betroffenen einbeziehe und nicht über sie hinweg entscheide. «Materielle Armut ist bewältigbar. Es gibt genügend Geld», meinte er. Doch Armut gehe tiefer. Wenn sie etwa «vererbt» wird und am Selbstwert nagt, nützten Beratungen wenig, führte er aus.

Arbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren funktioniere auch nicht bei allen. Etliche geraten erst recht unter Druck, schaffen es nicht und fühlten sich doppelt schuldig. Wer auf dem Arbeitsmarkt keine Chance habe, sollte mehr Unterstützung bei der sozialen Integration erhalten, findet Ueli Mäder. Betroffene müssten dann nicht den nächsten prekären Job annehmen, sondern hätten mehr Möglichkeiten und Zeit für eine allfällige Umschulung oder Weiterbildung, die ihnen entspricht. «Die Mehrkosten rentieren gesellschaftlich», betonte Ueli Mäder.

Grundbedarf von 1000 Franken
Das Bundesamt für Statistik misst Armut anhand des sozialen Existenzminimums. Dazu orientiert es sich an den Ausgaben der untersten zehn Einkommensprozent. Die SKOS errechnet das Existenzminimum aus dem Grundbedarf plus Wohnkosten und weiteren Auslagen. Dies ergab im Jahr 2020 für eine Einzelperson insgesamt 2279 Franken pro Monat. Aktuell liegt die Empfehlung der SKOS für diesen Grundbedarf bei 1006 Franken. Die SKOS erstellt diese Richtlinien als Empfehlung für die Kantone. Nicht alle Kantone befolgen sie. Der Kanton Bern rechnet mit dem Sozialhilfe-Grundbedarf von 977 Franken. Dies entspricht dem SKOS-Betrag von 2011.

«Die SKOS ist kein politisches Gremium, aber wir sind bereit für jeden Übergriff in die Politik», sagte SKOS-Präsident Christoph Eymann, etwa wenn Kantone die Sozialhilfe kürzen wollen. Die Sozialhilfe bekämpfe in erster Linie die materielle Form von Armut. Mehr Mitarbeitende bei den Sozialämtern führten zu grösseren Erfolgen bei der Integration der Sozialhilfeempfänger in den Arbeitsmarkt, erklärte Eymann.

Das SKOS-Monitoring bestätigt Ueli Mäders Beobachtung, dass nicht alle Sozialhilfeempfänger für den ersten Arbeitsmarkt geeignet sind. Die SKOS fördert darum Weiterbildungen. Es reiche nicht, nur Stellen zu vermitteln, betonte Christoph Eymann. Arbeit müsse Sinn stiften und die Betroffenen müssten am sozialen Leben teilhaben können. Viele Armutsbetroffene litten unter Vereinsamung und schämten sich, vom Staat Geld zu beanspruchen. Hier müsse sich in der Gesellschaft und in der Politik etwas ändern.

Investieren in familienfreundliches Umfeld
Die Stadt Bern investiere in ein familienfreundliches Lebensumfeld, erklärte Claudia Hänzi. So soll die frühe Förderung helfen, dass die Armut der Eltern nicht auf die Kinder übergeht.

Zudem bietet die Stadt eine spezifische Begleitung für Jugendliche in der Berufsausbildung an sowie Weiterbildungen in einfachen, praktischen Fähigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind. Davon profitieren Personen ohne Ausbildung.

Bern strebe einen Haltungswechsel an, so Claudia Hänzi weiter: «Wir wollen Alleinerziehende nicht in der Familienarbeit parkieren, weil es bequem ist, sondern sie gezielt fördern und empowern» mit unter anderem Kinderbetreuung und Teilzeitausbildungen.

Personen mit wenig Aussicht auf eine Arbeitsstelle sollen trotzdem einer sinn- und identitätsstiftenden Tätigkeit ohne Leistungsdruck und mit fairem Lohn nachgehen können, meinte Hänzi. Ebenso müssten Sozialhilfeleistungen den sozialen Anschluss und die persönliche Entfaltung ermöglichen.

Die Leiterin des Sozialamts verhehlte nicht, dass es eine Reihe von Problemen gibt, gegen die – nicht nur in der Stadt Bern – wirkungsvolle Strategien fehlen: Wie verbessert man die allgemeine Gesundheit von Armutsbetroffenen? Wie erreicht man die Menschen, die keine Sozialhilfe beziehen, obwohl sie dazu berechtigt wären? Was hilft gegen versteckte Armut oder gegen hohe Verschuldung? Und nicht zuletzt müsse man in der Gesellschaft Akzeptanz schaffen für Lebensmodelle, die nicht mit Erwerbsarbeit und Leistung verknüpft sind, sagte Claudia Hänzi.

Karin Müller, kirchenbote-online

Die Forschungsgemeinschaft «Mensch im Recht» hat die Referate auf ihrer Webseite veröffentlicht.

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