«Dankbarkeit ist ein guter Weg, Hoffnung zu fördern»
Andreas M. Walker, Sie sind Zukunftsforscher und Begründer des Hoffnungsbarometers. Woraus schöpfen Herr und Frau Schweizer Hoffnung?
Das Hoffnungsbarometer wird dieses Jahr zum 17. Mal erhoben. Für mich sind drei, vier Dinge entscheidend: Erstens beginnt Hoffnung bei einem selbst, bei der Eigenverantwortung. In der Psychologie und Pädagogik sprechen wir von Selbstwirksamkeit – dem bewussten Entschluss, Verantwortung für seine eigenen Gefühle und Handlungen zu übernehmen. Zweitens spielt das soziale Umfeld eine zentrale Rolle: Familie, Freunde. Grosse Institutionen wie Staat, Wirtschaft oder Kirche sind dabei weniger relevant. Hoffnung entspringt dem unmittelbaren Leben. Das schafft eine Spannung zwischen dem Überlebenswillen im Kleinen und den grossen Problemen der Welt.
Wer hat recht: die Pessimisten oder die Optimisten?
Die hoffnungswilligen Realisten. Studien zeigen, dass Optimisten gesĂĽnder sind und mehr Gestaltungskraft haben. Doch Optimismus darf nicht naiv sein, denn die Herausforderungen sind real. Entscheidend ist, ob wir Beziehungen und Orte finden, die uns Kraft, Mut, Vorstellungskraft und Ausdauer geben. Optimismus ist teils angeboren, teils eine Frage der Haltung und des Willens. Ob im Sport, in der Politik oder im Glauben: Wer nicht gewinnen will, wird nicht gewinnen. Der menschliche Wille birgt mehr Potenzial, als wir oft glauben.
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Der Basler Andreas M. Walker zählt zu den führenden Zukunftsexperten der Schweiz. Er war von 2009 bis 2018 Co-Präsident von swissfuture. Walker berät und coacht Führungskräfte aus Kirche, Wirtschaft und Staat zu den anstehenden grossen Veränderungen. Walker initiierte das Hoffnungsbarometer, das die Schweizer Bevölkerung jährlich nach ihrer Hoffnung befragt. Inzwischen wird das Hoffnungsbarometer von der HSG St. Gallen weitergeführt.
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Wir leben in Krisenzeiten: Krieg in der Ukraine, Klimawandel, Hoffnungslosigkeit bei Jugendlichen. Doch auch vor 50 oder 60 Jahren gab es Kriege und Krisen.
Ich wurde 1965 geboren, mitten in der Kubakrise. Meine Mutter erzählte, dass man ihr damals sagte, es sei unverantwortlich, in dieser Zeit Kinder zu bekommen. Zum Glück hat sie nicht darauf gehört. Jonathan Haidt hat in seinem Buch «Generation Angst» untersucht, warum die heutige Jugend so ängstlich scheint. Er nennt mehrere Gründe: Erstens prasseln heute durch digitale Medien ununterbrochen schlechte Nachrichten auf uns ein. Wir führen weniger echte Gespräche, schlafen zu wenig und werden süchtig nach digitalen Inhalten. Das heranwachsende Gehirn unserer Jugendlichen ist den negativen Folgen der Digitalisierung massiv ausgesetzt. Deshalb diskutiert man, ob soziale Medien für Kinder und Jugendliche eingeschränkt werden sollten.
Wie ist Ihre Meinung dazu? Sollte der Zugang zu sozialen Medien für Kinder und Jugendliche eingeschränkt werden?
Wir stehen hier in einem Zwiespalt: Der unbegrenzte Umgang mit Digitalisierung ist hoch riskant – so wie bei Nikotin, Alkohol und Zucker auch. Aber unsere Arbeits- und Medienwelten sind seit wenigen Jahren durchdigitalisiert. Wir müssen diese Kompetenz erlernen. Familien, Schulen und Fachwelt sind im Moment überfordert und haben noch kein taugliches Modell gefunden. Ein Verbot schützt die heranwachsenden Gehirne unserer Kinder in einer wichtigen Phase – trotzdem müssen wir den verantwortungsvollen Umgang erlernen.
Gibt es noch weitere GrĂĽnde fĂĽr die schwindende Hoffnung in der Gesellschaft?
Wir leben im Westen auf hohem Niveau, was unsere Verlustängste verstärkt. In Afrika oder Lateinamerika glaubt man noch an Fortschritt. Und drittens frage ich mich, welche Geschichten wir unseren Kindern erzählen. Machen wir ihnen Mut oder jammern wir nur? «Die Rente reicht nicht, die Welt geht unter, wir sind hilflos dem Klimawandel ausgesetzt» – solche Botschaften prägen. Wir müssen uns überlegen, welche Geschichten wir den Jungen mitgeben.
Kann man Hoffnung lernen?
Ja, Hoffnung ist lernbar – durch Workshops, Programme oder einfache Übungen. In der Sozialpädagogik spricht man von Selbstwirksamkeit: Wer im Kleinen lernt, Probleme zu bewältigen, traut sich das auch im Grossen zu. Doch wer schon im Kleinen scheitert, etwa weil Eltern zu stark bevormunden, entwickelt oft Hilflosigkeit. Beides – Selbstwirksamkeit und Hilflosigkeit – kann man lernen.
Haben Sie einen Tipp?
Dankbarkeit ist ein guter Weg, Hoffnung zu fördern. Ein Dankbarkeitstagebuch hilft, den Tag positiv zu reflektieren. Wer das Gute im heutigen Tag erkennt, schöpft Mut für morgen.
Trauen wir Jugendlichen heute zu wenig zu?
Ja, das beginnt schon im Alltag: Lassen wir Kinder allein in den Wald, über die Strasse oder in den Fussballclub gehen? Viele Eltern überwachen ihre Kinder ständig per Handy. Doch Kinder brauchen Freiräume, etwa in der Pfadi, der Jungschar oder im Sport. Auch «Ämtli» oder Haustiere fördern das Verantwortungsbewusstsein. Schliesslich müssen wir Sinnfragen klären. Menschen sind bereit, Entbehrungen auf sich zu nehmen, wenn sie verstehen, worum es geht und was der Sinn ist. Politik, Ethik und Religion müssen mutig darüber sprechen. Die Kirche könnte hier eine wichtige Rolle spielen, wenn sie sich klar positioniert und ehrliche Gespräche von Mensch zu Mensch fördert.
In der Weihnachtsgeschichte sagen die Engel zu den Hirten auf dem Felde: «Fürchtet euch nicht.» Haben die Engel recht?
Ja und nein. Im Deutschen unterscheiden wir zwischen Furcht und Angst. Furcht ist eine Reaktion auf konkrete Bedrohungen, die überlegtes Handeln und Mut erfordern. Dauerhafte Ängstlichkeit hingegen ist ungesund.
Ist der christliche Glaube ein Glaube der Hoffnung?
Ja, hoffentlich. Paulus beschreibt im Korintherbrief das Dreieck aus Glauben, Liebe und Hoffnung. Er betont, dass alle drei in Balance stehen müssen. Leider hat sich die Kirche in den letzten 2000 Jahren zu sehr auf den Glauben konzentriert. Doch es braucht auch Liebe – zu sich selbst, zu anderen und zu Gott – und Hoffnung. Diese Balance gibt Kraft, sowohl für das individuelle Leben als auch für Organisationen.
Paulus sagt, die Liebe sei das Grösste. Ist sie der Schlüssel zu Hoffnung und Glauben?
In der Bibel umfasst Liebe Selbst-, Nächsten- und Gottesliebe. Sie drückt Vertrauen in sich selbst, in eine höhere Ordnung und in Beziehungen aus. Hass und Rache hingegen zerstören. Liebe ist ein mächtiges Konzept, das Hoffnung und Glauben stärkt. Leider hat unsere Kultur die Liebe auf Gefühle reduziert. Doch Liebe, Hoffnung und Glaube sind nicht nur Gefühle, sondern auch Entscheidungen. Es wäre an der Zeit, das wieder stärker zu betonen.
Kann ein Atheist Hoffnung haben?
Natürlich. Die moderne Psychologie sieht Spiritualität als Ressource. Transzendenz bietet eine zusätzliche Energiequelle. In der Bibel gibt es viele ermutigende Geschichten, etwa die von Mose und dem Volk Israel, das 400 Jahre als Sklaven in Ägypten lebte. Diese Geschichten zeigen, wie wichtig es ist, dranzubleiben.
Doch auch Optimisten ohne Glauben leben gesünder und geben nicht so schnell auf. Gleichzeitig kann ein gläubiger Mensch von Angst getrieben sein, etwa durch ein negatives Gottesbild. Wer ständig ein schlechtes Gewissen hat oder den Weltuntergang fürchtet, schöpft wenig Hoffnung.
Wo sehen Sie heute Entwicklungen, die Hoffnung geben?
Vor 50 Jahren wäre in Basel niemand im Rhein geschwommen. Heute ist das Wasser sauber. Das Bewusstsein für Umwelt- und Naturschutz ist enorm gewachsen. Auch in der Gestaltung von Innenstädten, Gärten und Spielplätzen hat sich viel verbessert. Früher war es normal, dass Väter ihre Kinder schlugen. Heute nehmen Erwachsene Kinder ernster. Und unsere Töchter haben heute eine völlig andere gesellschaftliche Stellung als damals unsere Grossmütter. Unser Wissen über Psychologie, mentale Gesundheit und physische Gesundheit ist enorm gewachsen. Die Lebenserwartung ist gestiegen. Das Problem liegt nicht im Wissen, sondern in der Umsetzung. Gesund zu leben, gute Beziehungen zu führen, die Umwelt zu schützen – all das erfordert tägliche Entscheidungen und die entsprechende Zeit. Doch die Digitalisierung hat uns zu Getriebenen gemacht. Sie versprach, Zeit zu sparen, doch wir erleben das Gegenteil und verbrauchen als Gehetzte enorm Zeit, um die digitale Flut zu bewältigen.
Trotzdem hat die Kriegssituation in Europa zugenommen ...
Ja. Nach 80 Jahren Frieden in Europa waren der Frieden, der Wohlstand und die Demokratie so selbstverständlich. Und dabei haben wir die Dankbarkeit und die Zufriedenheit vernachlässigt. Auch die Kirche hat in moralisierender Art oft nur den Mangel, das Fehlverhalten und die Sünde betont.
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«Dankbarkeit ist ein guter Weg, Hoffnung zu fördern»