News von der Glarner reformierten Landeskirche
Sommerserie: Bibelkrimis

Der der Wahrheit die Stirn bot

von Noemi Harnickell
min
30.07.2025
Die Kriminalkommissarin Eva Lorenz erhält ein Paket mit düsterem Inhalt, nur 24 Stunden nachdem ein predigender Youtuber den grössten Politskandal aller Zeiten aufgedeckt hat. Der zweite Bibelkrimi unserer Sommerserie.

Heute

Kommissarin Eva Lorenz war keine Frau, deren Magen sich schnell umdrehte. Der Tod war ihr Geschäft und er kam selten in Gestalt der scheinbar Schlafenden. Nicht zu Eva jedenfalls. Sie hatte die Eingeweide aus Leichen quillen sehen, hatte Körperteile eingesammelt und wieder zusammengesetzt, war dem Geruch der Verwesung gefolgt und hatte aufgedunsene Körper aus dem Wasser gezogen. Eva Lorenz hatte Mitgefühl für die Opfer und für ihre Familien, die mit den Fragen zurückblieben. Sie empfand Entsetzen über die Gräuel, natürlich tat sie das. Aber es kam nur sehr selten vor, dass ihr bei der Arbeit schlecht wurde.

Der Fall, der vor ihr auf dem Tisch lag, war nicht widerlicher als alle jene, die sich abgeschlossen in dicke Ordner verstaut an der Regalwand hinter Eva Herzogs Schreibtisch aneinanderreihten. Sie hatte die Ordner absichtlich so hingestellt, dass sie in Online-Meetings gut sichtbar waren. Die Trophäen ihrer langjährigen Arbeit. Aber irgendwie hatte sie nichts so getroffen, wie es dieses Paket auf ihrem Schreibtisch tat. Sie schob die Schachtel von sich, ihr Gewicht eine unangenehme Erinnerung an den Inhalt. Dann griff Eva zum Telefon. «Hallo, Gerichtsmedizin hier?», sagte sie. «Wir haben einen neuen.»

24 Stunden vorher

Johannes hatte seinen Nachnamen abgelegt an dem Tag, an dem er sein Leben der Wahrheit gewidmet hatte. Nachnamen waren etwas für normale Menschen. Keiner der Propheten hatte einen Nachnamen. Es gab keinen Jesaia Müller. Und Jesus Meierhans hätte einfach nur lächerlich geklungen.

Die Sache funktionierte recht gut, vor allem in seiner Online-Gemeinde. Sein Youtube-Kanal, J Speaks Truth, oder kurz JST, hatte fast eine halbe Million Subscriber und damit eine grössere Zahl an Anhängern, als es Jesus damals hatte, wie Johannes sich selbst immer wieder erinnerte.

Johannes sass im Schneidersitz auf seiner Couch. Sein Handy lehnte gegen einen Stapel Bücher auf dem Couchtisch, die Kamera auf ihn gerichtet. Eine Stehlampe, die im Video nicht zu sehen sein würde, warf ein gelbes Licht auf sein Gesicht. Johannes nahm das Podcast-Mikrofon, das er sich mit seinem ersten Youtuber-Gehalt gekauft hatte, und sagte: «Hey Leute! Willkommen bei J Speaks Truth, dem einzig unabhängigen Medium zu Politik, Wirtschaft und Religion!»

Johannes führte den Kanal seit genau zwei Jahren. Vor einem Jahr gab er die Arbeit als Sozialarbeiter auf, weil er genug Einkommen mit den Videos generierte. Und weil sein Arbeitgeber ihn dazu gedrängt hatte, nachdem die Presse ihn als Fanatiker bezeichnet hatte. Johannes musste zugeben, er war selbst überrascht gewesen über die Reichweite, die er in dieser kurzen Zeit geschaffen hatte. Nicht alle liebten ihn dafür, manche lachten sogar über ihn. Aber sie alle schauten seine Videos. Denn: Was er erzählte, war die Wahrheit und heute hatte er etwas Grosses zu erzählen.

«Wie ihr wisst, habe ich immer wieder versucht, in den Kreis der Salome zu kommen. Es handelt sich dabei um eine Clique aus Politik, Wirtschaft und Unterhaltungsindustrie rund um die Politikertochter Salome Lahn. Sie posiert als Influencerin in den sozialen Medien und führt ihre jungen Fans direkt ins Verderben.»

Anstatt weiterzureden, würde Johannes eine Montage aus Fotos und Dokumenten einblenden. Er hatte sie gestern Abend geschossen und eingescannt und sie erzählten alles.

 

Sommerserie Bibelkrimis

Biblische Geschichten erzählen von zeitlosen Konflikten: Eifersucht, Verrat, Machtmissbrauch. Diese Themen sind heute so aktuell wie einst. In der Sommerserie «Bibelkrimis» macht der «Kirchenbote» aus bekannten Bibeltexten Kriminalfälle der Gegenwart. Dabei zeigt sich: Fragen nach Gut und Böse, Schuld und Vergebung bleiben aktuell.

Jeden Mittwoch erscheint eine neue Folge: Mittwoch, 16., 23., 30. Juli, 6. August und 13. August.

 

Heute

«Warum würde mir jemand den Kopf eines Youtubers zuschicken?», fragte Eva Lorenz aufgebracht in den Raum. Sie hatte es endlich geschafft, die Schachtel in die Gerichtsmedizin zu bringen.

Der junge Gerichtsmediziner, dessen Name sie sich nicht merken konnte, zuckte hilflos mit den Schultern. Sie wusste, dass sie ihn nervös machte, aber Eva war zu aufgewühlt, um ihm die Verunsicherung zu nehmen. «Ähm», stotterte er. «Wollen Sie wissen, wie … ich meine, was wir herausgefunden haben? Frau, äh, Lorenz?»

Eva Lorenz rieb sich das Gesicht, dann nickte sie. «Bitte.»

«Die Enthauptung ist professionell ausgeführt worden», sagte der Gerichtsmediziner. «Offensichtlich nicht mit Gewalt, sondern mit chirurgischer Präzision. Keine weiteren Spuren in der Schachtel. Kein Fingerabdruck, kein Haar.»

Aber jemand wollte, dass sie, Eva, es wusste. Dass sie den Kopf bekam. Warum?

«Kannten sie Johannes?», fragte der Mediziner.

«Ich fand ihn ja immer etwas drüber», fuhr der Gerichtsmediziner aufgeregt fort. «Ein bisschen ein Jesus-Komplex, wenn Sie verstehen, was ich meine.» Er lachte kurz. «Aber was er sagte, war oft wahr.»

Eva Lorenz nickte nachdenklich. Ja, sie kannte Johannes. Einen Menschen wie ihn behielt man als Kriminalkommissarin besser im Auge, denn der Gerichtsmediziner hatte Recht: Er war nah an der Wahrheit gewesen. Zu nah vielleicht.

Sie hatte Johannes nur einmal getroffen, bei einer Live-Aufzeichnung eines Videos für J Speaks Truth. Der Publikumssaal war voll gewesen und alles, was Johannes gesagt hatte, wurde mit Zurufen bejubelt, während draussen die Protestierenden mit faulen Tomaten und Schildern warteten. «Wir servieren deinen Kopf auf einem Teller», war auf ein Pappkarton geschrieben, den jemand in die Höhe hielt. Wie prophetisch dies im Nachgang wirkte. Oder wie ausgeklügelt.

Nach der Veranstaltung hatte sie ihn abgefangen und ihm ihre Karte zugesteckt. Für alle Fälle, sollte er jemals Hilfe benötigen.

Sie hätte ahnen sollen, dass für Johannes jede Hilfe bereits zu spät war.

22 Stunden vorher

Johannes sass vor seinem Laptop und sah, wie die Zahlen stiegen. Hundert Zuschauer. Zweihundert. Fünfhundert. Zweitausend.

Er ging ins Bad, putzte sich die Zähne und fuhr mit einem Kamm durch seinen dicken Bart. Viel war nicht zu machen, das Haar war zu eigenwillig. Aber er wollte einen guten letzten Eindruck hinterlassen. Als es an der Tür klopfte, war er bereit.

Heute

Eva Lorenz hatte vergeblich versucht, das Video im Internet anzuschauen, über das in den Foren alle sprachen. Kein Nachrichtenmagazin hatte darüber berichtet. Wenn wirklich drin war, was Eva befürchtete, dann waren die Redaktionen eingeschüchtert worden.

Und sie? Würde sie sich einschüchtern lassen von einem enthaupteten Kopf auf ihrem Schreibtisch? Eva hatte nur sehr selten Angst, aber das Gefühl in ihrem Magen konnte sie nicht ignorieren.

«Frau Lorenz!» Es war die Stimme des jungen Gerichtsmediziners, der im Labor sass und seine Untersuchungen durchführte. «Sie werden nicht glauben, was ich soeben gefunden habe!» Er stolperte aufgeregt durch die Tür, eine Speicherkarte in seiner Hand. «Das war in seinem Mund! Offenbar hatten sie nicht nachgeschaut, bevor sie ihn … nun ja.»

Eva Lorenz schnappte ihm die Karte aus der Hand und mit einem knappen «Dankeschön» rannte sie den Korridor zurück in ihr Büro.

Auf dem Laptop erschien ein Video. Eva dachte gerade rechtzeitig daran, die Jalousien zu schliessen, bevor sie auf PLAY drückte.

Johannes sass auf einer alten Ledercouch. «Wie ihr wisst, habe ich immer wieder versucht, in den Kreis der Salome zu kommen», sagte er mit ernster Stimme in die Kamera. «Es handelt sich dabei um eine Clique aus Politik, Wirtschaft und Unterhaltungsindustrie rund um die Politikertochter Salome Lahn. Sie posiert als Influencerin in den sozialen Medien und führt ihre jungen Fans direkt ins Verderben.»

Der Kreis der Salome. Eva Lorenz schürzte die Lippen. Dabei handelte es sich doch nicht etwa um – ihre Überlegungen wurden von einer Montage aus Bildern und Videos unterbrochen. Da war sie, Salome Lahn, die Tochter von Innenminister Victor Lahn, ausgiebig am Tanzen zwischen hochrangigen Politikern. Dann kamen die Dokumente. Chats. Kontenbewegungen. Drogen. Schweigegeld. Minderjährige.

Salome Lahns junge Fans, die zu feiern eingeladen wurden, von denen sie niemandem etwas erzählen durften. Und im Zentrum des Ganzen: Vater und Tochter Lahn, die genüsslich ihre Freiheit feierten.

Eva schloss erst den Laptop, dann ihre Augen. Sie besass nun die ganze Wahrheit. War sie mutig genug, zu handeln? Junge Menschen waren missbraucht worden, von einem millionenschweren Politiker, dessen Tochter sie zu ihm geführt hatte. Und Johannes war für die Wahrheit gestorben.

Eva begriff nun, dass Johannes gewusst haben musste, dass dies sein letztes Video würde. Aus irgendeinem Grund hatte er sogar gewusst, wie sie ihn töten würden – und dass sein Kopf bei ihr, Eva, auf dem Schreibtisch landen würde. Kalte Angst machte sich in ihr breit. Wenn das alles stimmte, dann war sie als nächstes dran.

Es sei denn, sie schwieg.

Eva Lorenz war keine mutige Frau. Sie war eine pragmatische Frau. Sie wusste, wenn jemand für die Wahrheit gestorben war, dann durfte das nicht umsonst bleiben. Zum zweiten Mal an diesem Vormittag griff sie zum Hörer. Sie hatte eine Geschichte zu erzählen.

 

Die Enthauptung des Johannes in der Bibel

Der gefangen gesetzte Prophet und Täufer Johannes wurde während der Geburtstagsparty von König Herodes enthauptet. Für das Fest hatte sich die zweite Frau des Herrschers etwas Besonderes einfallen lassen: Ihre Tochter Salome, bekannt für ihre betörenden Auftritte, die insbesondere die Männerwelt erfreuen, sollte zu Ehren ihres Stiefvaters auftreten.

Begeistert von der Performance, gewährte Herodes seiner Stieftochter in einer Erklärung vor den geladenen Gästen einen Wunsch. Nach Rücksprache mit ihrer Mutter wünschte sich Prinzessin Salome, der im nahen Gefängnis inhaftierte Prophet Johannes der Täufer solle enthauptet und der abgeschlagene Kopf ihr auf einem Silbertablett präsentiert werden.

Es war bekannt, dass Herodias ihrem Gatten Herodes schon lange in den Ohren gelegen hatte, den unbequemen Kritiker Johannes den Täufer aus der Welt zu schaffen. Johannes hatte öffentlich erklärt, dass die Ehe, die Herodes mit der Frau seines Bruders Philippus eingegangen war, wider die göttliche Ordnung sei.

Bibeltext zum Nachlesen (Matthäus 14,1–12).

Zu den einzelnen Kriminalfällen bietet die Serie «Biblische Tatorte» des Thurgauer Kirchenboten eine Auslegung. Im Jahr 2025 beleuchtet dieser jeden Monat ein Verbrechen aus der Bibel und fragt: Was sagen uns diese Schauplätze heute?

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