News von der Glarner reformierten Landeskirche
#denkpause

Der Stein des Lebens

von Pfarrer Daniel Zubler
min
12.05.2023
Kurz Einkehr halten, Durchatmen, Revision machen. Pfarrer Daniel Zubler schreibt plastisch über einen solchen Moment.

Vom Nachbarbaum trällert ein fröhlicher Buchfink sein Frühlingslied. Knospen beginnen ihren Wintermantel aufzusprengen, um ihre eingezwängten Blütenblätter in die Freiheit zu entlassen. Aufatmen. Durchatmen. Neubeginn. Nachdenken. Duftendes Harz und Blütenparfüm steigen in Nase und Seele. Gedanken ziehen und kommen lassen, wie die im Bergsee sich spiegelnden, zarten Wolkenfetzen. Vor mir ein grauer, abgeschliffener Stein mit weissen, sich kreuzenden Adern. Eigentlich unscheinbar, wenig kleiner als ein Hühnerei. Wo mag er hergekommen sein, bevor er sich hier am Rande des Seeufers eingenistet hat? Ist er wohl mit dem letzten grossen Regen den Berg hinuntergekugelt und einfach, wie das Leben so spielt, hier hingespült worden? Vor meine Füsse, wo ich mich auf den umgekippten, sich schon ein wenig zersetzenden Baumstrunk hingesetzt habe. Diese ruhige, mich beinahe einhüllende Atmosphäre lädt mich ein, über meine Lebensgeschichte nachzudenken. Der weissgeaderte Stein blickt mich an und fordert mich mit steinerner Liebenswürdigkeit auf, ihm von meinem Leben zu erzählen. Und so lasse ich einige wichtige Stationen in meinem Leben vor meinem inneren Auge vorbeiziehen und erzähle sie meinem runden, grauen, kleinen, neuen Freund.

Meine Schulzeit mit einigen Jugendabenteuern, welche wir Kinder noch frei spielend mit Pfeil und Bogen im Wald verbringen durften. Gymnasium mit weitem Blick auf die Zukunft und anschliessender Militärzeit in beengter Umgebung in meiner von mir gesteuerten Panzerhaubitze. Dann endlich Reisen in die weite, offene Welt als Flight Attendant der Swissair. Theologiestudium mit nicht enden wollenden Nächten im Studier- und gleichzeitigem Schlafzimmer. Erste Einzelpfarrstelle im Bündnerland und Heirat meiner geliebten Freundin und jetzigen Ehefrau. Zwei unvergleichliche Geburten miterlebt, welche radikal auf die Fragilität des Lebens verweisen. Eine nächste Pfarrstelle, dieses Mal im Dreierteam, im Berner Oberland mit Taufen, Konfirmationen, Trauungen und zahlreichen Abdankungen. Und schliesslich momentane Endstation Glarnerland als Spitalseelsorger am Kantonsspital. Ja, lieber Stein. Dies ist ein kleiner Auf- oder auch Abriss meiner Lebensstationen. Aber diese Aufzählung kann dir nicht zeigen, kann dich nicht fühlen lassen, mit wie vielen, intensiven Begegnungen sie verbunden waren. Denn Leben heisst sich begegnen, heisst sich miteinander austauschen und Emotionen teilen. Freudentränen über die Geburt unserer Söhne. Tränen der Trauer über die vier Weggefährten, welche ich im Zeitraum eines Jahres verloren habe. Nun kennst Du, nein, nun bist Du ein Stück meines Lebens. Mein Leben verdichtet in Dir, Stein. 

Plötzlich höre ich ein Geräusch. Ohne dass ich es bemerkte, ist ein kleines Mädchen neben mich getreten, hat mich angelächelt, hat zwei Schritte nach vorne gemacht und wohl auch meinen Stein, mein Leben, am Boden liegen sehen. Es umfasst meine graue Biografie mit seinen Fingern, zwinkert nochmals kurz über die Schulter zu mir zurück und wirft den Stein, nein, wirft mein Leben im grossen Schwung in den See hinaus. Ein einmaliges «Blopp» und mein Leben verschwindet einfach so im stillen See. Nicht mehr sichtbar. Ich erschrecke. Schliesse die Augen. Mein Leben auf einen Schlag weg. Einfach weg? Ich öffne die Augen. Schaue nochmals dorthin, wo sich mein Leben in den See verabschiedet hat. Und auch ich lächle. Lächle unbekümmert und frei, wie das Mädchen. Dort, wo der Stein eingetaucht war, sich mein Leben vermeintlich aufgelöst hatte, bilden sich nun konzentrische Kreise und bewegen sich über die ganze Wasseroberfläche. Gott sei Dank! 

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