News von der Glarner reformierten Landeskirche
Bräuche bei Geburt und Tod

Ein Fenster für das Unsichtbare

von Anna Schindler
min
01.09.2025
Der Brauch, ein Fenster zu öffnen, wenn jemand stirbt, hat sich bis heute gehalten. Es geht um das Öffnen für etwas, das wir normalerweise nicht sehen, aber vielleicht spüren. Geburt und Tod sind Begegnung mit Seelen. Wir können ihnen dabei helfen, anzukommen oder abzureisen.

Wenn das Leben eines Menschen zu Ende geht, ähnelt der Vorgang dem, was auch bei einer Geburt geschieht. Es gibt kein Zurück mehr. Es setzt ein Prozess ein, der sich unserer Steuerung entzieht. Die Zeit verdichtet sich. Bevor der Atemkreislauf eines Lebens beginnt oder zu Ende geht, öffnet sich der Raum zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Da ist eine Präsenz, ein Zustand von grosser Lebendigkeit. Ob es sich dabei um die Geburt eines Kindes oder um das Sterben eines Menschen handelt, wir tun instinktiv Dinge, die jetzt nötig sind. Oder werden diese Bräuche und Rituale über Generationen unbewusst weitergegeben und gespeichert? Ich weiss es nicht.

In der Nacht, als meine Grossmutter starb, war ich siebzehn Jahre alt und befand mich als Au-Pair in Paris. Ich erwachte und hatte Herzklopfen und Schweissausbrüche, hatte das Gefühl, jemand stehe im Raum. Also stand ich auf und öffnete das Fenster. Ich verstand nicht, was los war. Erst als mich mein Vater am nächsten Tag anrief und mir erzählte, dass Grossmutter letzte Nacht gestorben sei, stellte ich zeitlich einen Zusammenhang fest. Darüber sprechen konnte ich nicht.

Den Brauch, ein Fenster zu öffnen, wenn ein Mensch stirbt, führt unter anderem auf den Glauben zurück, der Anfang des 16. Jahrhunderts gepredigt wurde: Die Seele verlässt den Menschen durch den Mund. Das Fenster muss geöffnet werden, damit der Geist in den Himmel gelangen kann. Zu lange darf das Fenster allerdings nicht geöffnet bleiben, um zu verhindern, dass die Seele zurückkommt und womöglich herumspukt. In Mexiko werden bei einer Geburt Fenster und Türen geschlossen, damit Mutter und Kind nicht von bösen Geistern gestört werden. In Indien werden Türen und Fenster geöffnet, um dem Baby zu signalisieren, dass es willkommen ist.

Seelenfenster

In gewissen Häusern wurden mutmasslich spezielle Seelenfenster eingebaut. Ein Beispiel dafür ist das Urwaldhaus in Rehetobel im Kanton Appenzell Ausserhoden. Dieses Haus, auch als Gasthof Bären bekannt, wurde circa 1550 erbaut. Das Haus besitzt ein sogenanntes Seelenfenster, bei genauerer Betrachtung ist es eher ein Seelenbalken. Zudem gibt es eine weitere Holzluke, die als Pestfenster gedient haben soll. Durch diese Holzluke wurden Pestkranke mit Nahrung versorgt. Sowohl die Funktion des Seelenfensters als auch die des Pestfensters sind umstritten. Vermutlich waren die Öffnungen gebaut worden, um Luft- oder Licht hereinzulassen.

Der Brauch, ein Fenster zu öffnen, wenn jemand stirbt, hat sich bis heute gehalten. Es geht um das Öffnen für etwas, dass wir nicht sehen können. Es ist ein Ritual, das die Existenz eines Geistes, einer Seele voraussetzt. Dieser Seele den Weg zu ihrem Ursprung zu erleichtern, ist ein Brauch, der mich berührt. Auch wenn alles vergänglich ist, ist logischerweise auch die Vergänglichkeit vergänglich und spürbar, dass etwas bleibt.  

Dem Bauchgefühl trauen

Sowohl bei der Geburt meines ersten Kindes als auch beim Tod meines Vaters gab es diesen Moment, wo ich die reine Existenz der Seele wahrnehmen konnte. Als meine Tochter endlich da war, sahen wir uns an und ich vergesse nie diesen Augenblick. Der Übergang unseres Einsseins zum Begrüssen der neu in die Welt gekommenen Seele. Ebenso intensiv erlebte ich den letzten Atemzug meines Vaters. Es folgte eine friedvolle Stille und Präsenz, als würde ein Engel durch das Zimmer schweben. Ich öffnete, ohne zu überlegen, das Fenster.

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