Eine Gewalterfahrung, die weitergeht
«Wir müssen erkennen, dass weiterhin ein Grossteil der Gesellschaft der Realität von Armut in der Schweiz mit Unverständnis begegnet», sagt Annelise Oeschger, Mitglied der Steuergruppe Valorisierung des Forschungsprojekts «Armut – Identität – Gesellschaft». Die Bewegung ATD Vierte Welt hatte in Basel zusammen mit der reformierten Kirche Basel-Stadt, Caritas und Winterhilfe ein Dialog-Treffen organisiert. «Viele können sich nicht vorstellen, was es heisst, arm zu sein. Noch überwiegt das Vorurteil, dass Menschen in Armut auf Kosten von anderen leben.»
Das Forschungsprojekt zeigt auf, dass die Schweiz eine lange Geschichte der Verwaltung von Armut hat und in der Leistungsgesellschaft die Armut meist individualisiert wird. In diesem Kontext bleibe die generationenübergreifende Armut ein weithin unerkanntes strukturelles Problem. «Leider ist es immer noch so, dass man von einem Teil der Bevölkerung, also den Armutsbetroffenen, nichts erwartet. Es gilt jedoch, die Ressourcen dieser Menschen zu entdecken und zu fördern», ist Oeschger überzeugt.
Armut ist wie ein Loch: irrelevant, finster, unsichtbar.
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen
Am 11. April 2013 hatte Justizministerin Simonetta Sommaruga im Namen der Landesregierung für das grosse Leid, das den Opfern der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen bis 1981 in der Schweiz zugefügt worden war, um Entschuldigung gebeten. Da zahlreiche Mitglieder von ATD Vierte Welt diese Zwangsmassnahmen persönlich erlebt hatten, wurde nach der Entschuldigung des Bundesrates die Arbeitsgruppe «Geschichte erforschen für die Zukunft der Kinder» gegründet.
Im September 2017 besuchte Bundesrätin Sommaruga das nationale Zentrum von ATD Vierte Welt in Treyvaux. Mitglieder der Arbeitsgruppe stellten klar, dass es trotz staatlicher Entschuldigung auch heute noch Menschen gibt, die generationenübergreifende Armut erleben und unter den Beziehungen zu den Institutionen leiden. Beeindruckt von diesem Austausch, ermutigte Bundesrätin Sommaruga ATD Vierte Welt, die partizipative Arbeit fortzusetzen, die es Menschen mit Erfahrung und Wissen der Armut ermöglicht, zur Geschichte des Landes beizutragen. Im Anschluss an dieses Treffen reichte ATD Vierte Welt beim Bundesamt für Justiz das Forschungsprojekt «Armut – Identität – Gesellschaft» ein, bei dem Menschen mit Armutserfahrung, Fachleute und Wissenschafterinnen zusammenarbeiteten, um dem Phänomen der fortdauernden Armut in der Schweiz auf den Grund zu gehen.
Entweder wir schweigen und werden als desinteressiert angesehen. Oder wir sagen, was wir denken, und werden als aggressiv angesehen.
Armutsbetroffene ernst nehmen
Mirjam Baumann, Sozialdiakonin der reformierten Kirche Basel-Stadt, weist im Gespräch darauf hin, dass armutsbetroffenen Menschen oft die Kontrolle über ihr Leben entzogen wird. Es sei dann für diese schwierig, sich selbst noch als vollwertige Personen zu fühlen. «Als Sozialarbeiterin unterstütze ich die Menschen oft bei der Kooperation mit dem auf Kontrolle ausgerichteten Hilfesystem», sagt Baumann. «Aber ich sollte und möchte noch mehr als bisher die Menschen bei ihrem Selbstsein abholen, sie in ihren Vorhaben bestärken und versuchen, immer wieder alternative Wege zu gehen.» Baumann hofft, dass der Forschungsbericht dazu beiträgt, das Menschenbild von Armutsbetroffenen in der Gesellschaft zu ändern.
Die Rechte sind nicht für uns gemacht.
Veränderungen initiieren
Der Forschungsbericht selbst nennt drei Grundpfeiler für Veränderungen: Armut kennen, verstehen und anerkennen; Handlungsmacht erlangen und stärken; den Wandel gemeinsam gestalten. Im Weiteren benennt er vier Handlungsfelder, in denen Veränderungen stattfinden müssen: politische Ebene und Gesetzgebung; gesellschaftliche Ebene und Öffentlichkeit; institutionelle Ebene; wissenschaftliche Ebene und Bildung. Zusammen mit Fachleuten, die nicht an der Forschungsarbeit beteiligt waren, wurden Ansätze gesucht, dass sich Armut nicht mehr von Generation zu Generation wiederholt.
Forschungsprojekt
Im Oktober 2022 erhielt das Forschungsprojekts «Armut – Identität – Gesellschaft» den Prix Sozialinfo. Die Jury beschrieb das Projekt als möglichen Gamechanger im Sozialbereich, welches das Potenzial hat, tiefgreifende Veränderungen herbeizuführen, wie die Gesellschaft armutsbetroffene Menschen betrachten und behandeln soll. Link zur Studie: www.atd.ch/de (Stichwort: Forschungsbericht
Eine Gewalterfahrung, die weitergeht