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Interview mit Wilhelm Schmid: «Sinn entsteht immer dort, wo eine Beziehung ist»

von Swantje Kammerecker
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28.12.2025
Sinnliche Erfahrungen und Sinn gehören für den Philosophen Wilhelm Schmid zusammen. Der hochproduktive Bestseller-Autor, Vortragstreisende und Professor der Philosophie im Interview.

Wilhelm Schmid wurde 1953 als Sohn eines Landwirtsehepaars in Bayern geboren, er wuchs mit fünf Geschwistern auf. Er lebt heute in Berlin.
Nach der Lehre als Schriftsetzer und vier Jahren bei der Bundeswehr holte er das Abitur nach und startete eine aussergewöhnliche akademische Karriere: Studium in Berlin, Paris, Tübingen; ausserordentliche Professur für Philosophie in Erfurt, Gastdozent in Lettland und Georgien und 1998 bis 2007 Spitalseelsorger am Spital Affoltern am Albis bei Zürich. Der Vortragsreisende und Bestseller-Autor hat sich mit der Frage der Fragen – dem Sinn des Lebens – in verschiedensten Aspekten auseinandergesetzt. Er vertritt eine lebensnahe Philosophie, die auch Sinnesfreuden und Sexualität thematisiert, so etwa 2015 bei Sternstunde Philosophie SRF mit Barbara Bleisch. 2017 stellte er in Glarus sein Buch «Das Leben verstehen» vor. Nach dem Tod seiner Frau, der er sich auch «in einem anderen Aggregatzustand» weiterhin durch eine tiefe Beziehung verbunden weiss, erkundete er in den neusten Publikationen nachdenkliche Sinn-Themen.

Herr Professor Schmid, wie hängen der Sinn des Lebens und unsere fünf Sinne voneinander ab?

Sinn entsteht immer dort, wo eine Beziehung ist, etwa die Beziehung zwischen Selbst und Welt, die durch Sinne vermittelt wird. Welche Bedeutung das hat, lässt sich durch die Vorstellung ermitteln, wir könnten nichts mehr sehen, hören, riechen, schmecken, betasten. Wenn wir hingegen eine starke sinnliche Erfahrung machen, ist das für uns vollkommen sinnerfüllend. Nicht für sehr lange, aber für die Zeit der Erfahrung.

Gibt es den Zusammenhang zwischen Sinn und Glück?

Sinn ist weitaus tragfähiger als das Glück, das launisch ist. Alle wissen, dass es unmöglich ist, in einer Beziehung immer nur glücklich zu sein. Aber es ist möglich, immer in ihr Sinn zu sehen und damit auch unglückliche Zeiten durchzustehen.

In Ihrem Buch «Das Leben verstehen» schreiben Sie auch über sinnliches Erleben in der Seelsorge. Was ist da gemeint?

Seelsorge kann darauf aufmerksam machen, dass es wertvoll ist, sinnliche Erfahrungen zu suchen und zu finden, etwa etwas Schönes zu sehen, tolle Musik zu hören, intensiv zu riechen, zu schmecken und etwas oder jemanden zu berühren, einen Menschen zu umarmen oder auch nur seine oder ihre Hand zu halten.

Zuweilen wird behauptet, Sinn sei eine Illusion – etwa in einem ebenfalls sehr populären Buch (Yuval Harari:«Eine kurze Geschichte der Menschheit»). Was sagen Sie dazu?

Kein Sinn ist auch eine Illusion. Oder anders gesagt: Niemand kennt die vollständige Wahrheit von Leben und Welt, also sollte auch niemand so weitreichende Behauptungen aufstellen.

Kommt immer darauf an, was unter Sinn verstanden wird. Ich verstehe darunter Beziehungen, denn die werden von Menschen als sinnerfüllt empfunden, je enger sie sind, am stärksten in der Liebe. Wer liebt und geliebt wird, zweifelt nicht am Sinn des Lebens. Das ist ein Erfahrungswert, der auch für andere Arten von Beziehungen gilt, etwa auch für die Beziehung zu einer Arbeit oder einem geliebten Tier. Es liegt am jeweiligen Menschen selbst, Beziehungen einzugehen und zu pflegen.

Können wir Menschen denn selber Sinn finden bzw. stiften oder ist dies ein Stück unverfügbar?

Es kommt immer darauf an, was unter Sinn verstanden wird. Ich verstehe darunter Beziehungen, denn die werden von Menschen als sinnerfüllt empfunden, je enger sie sind, am stärksten in der Liebe. Wer liebt und geliebt wird, zweifelt nicht am Sinn des Lebens.
Das ist ein Erfahrungswert, der auch für andere Arten von Beziehungen gilt, etwa auch für die Beziehung zu einer Arbeit oder einem geliebten Tier. Es liegt am jeweiligen Menschen selbst, Beziehungen einzugehen und zu pflegen.

red./Fragen: Swantje Kammerecker

Büchertipps - die neusten Publikationen von Wilhelm Schmid:

Die Fülle die Lebens, 100 Fragmente des Glücks, 167 Seiten, Insel Taschenbuch / E-Book (2025)

Alle reden vom Glück. Nicht wenige Menschen aber werden unglücklich, nur weil sie glauben, immer glücklich sein zu müssen.
Mit diesem Buch wird die Sehnsucht nach Glück in nachdenklichere Bahnen gelenkt. Es geht nicht ums Ganze, sondern um 'Fragmente des
Glücks'. Sie tragen letztlich zu einer Fülle des Lebens bei, die auch Widersprüche nicht ausschliesst. Und die alltäglichen Kuriositäten schätzt.

Die Suche nach Zusammenhalt, 468 Seiten Suhrkamp (2025)

Alle wollen in unserer Gesellschaft gesehen und verstanden werden, aber die wenigsten wollen sehen und verstehen – ein krasses Missverhältnis. Alle beanspruchen für sich »Einzigartigkeit«, aber der Gesellschaft liegt nicht Selbstverwirklichung, sondern Beziehungs
verwirklichung zugrunde. Wilhelm Schmid fragt danach, welche Werte die Gesellschaft wirklich braucht: Bedarf sie einer 'Identität' oder besser einer 'Integrität'?

Den Tod überwinden, 141 Seiten, Insel Verlag, 3. Auflage (2024)

Den Tod überleben, wie geht das? Das ist die unmittelbare Herausforderung für den, der bis auf Weiteres am Leben bleibt und Phasen
durchläuft, die zu kennen hilfreich ist. Eine beliebte Methode, den Tod zu überleben, besteht darin, nicht über ihn zu sprechen. Dem setzt Wilhelm Schmid sein Buch entgegen, das auf der Shortlist des Evangelischen Buchpreises 2025 und auf der Spiegel-Bestsellerliste stand.

 

 

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