Junge Seite: Ein Leben in einem Jahr
Von Liv Knecht
Vor einem Jahr habe ich eine Entscheidung getroffen. Die Entscheidung. Einige Monate später habe ich den Vertrag unterschrieben. Den Vertrag, ohne den ich jetzt zu Hause am Esstisch sitzen würde. Den Vertrag, ohne welchen mein Leben nicht auf den Kopf gestellt worden wäre. Doch wenn auch mit zitternder Hand, ich habe ihn unterschrieben. Dieser Moment war wohl einer der mutigsten bisher; in diesen wenigen Strichen auf dem Blatt Papier lag das Gewicht eines ganzen Jahres – oder sogar eines Lebens. Denn wie so viele sagen, ist ein Austauschjahr wohl eher ein Leben in einem Jahr, als ein Jahr in einem Leben. Und so begann mein Abenteuer «Kanada», das genau, aber auch überhaupt nicht so ist, wie ich es mir vorgestellt habe.
Eine neue Welt
Als ich im August hier in Ottawa angekommen war, war alles neu. Die Landschaft, die Sprache, die Menschen. Ich fühlte mich wie auf einem anderen Planeten – als würde ich eine völlig neue Welt erkunden. Jede Erfahrung erschien lauter und eindrücklicher als alles, was ich zuvor gesehen hatte. Ich fühlte mich wie ein Zwerg zwischen den Hochhäusern – klein und unbedeutend, aber zugleich zugehörig. Reizüberflutung. Kulturschock. Emotionale Überforderung. Ein Cocktail aus Freude, Neugier, aber auch Nervosität füllte meinen Körper. Doch nichts hält für immer, und so folgte irgendwann die Realisation. Die Erkenntnis, dass ich nun wirklich hier war. Dass dies keine Ferien waren. Dass all dies mein Alltag werden würde.
Allein unter vielen Menschen
An diesem Punkt begann ich, mich allein zu fühlen. Allein inmitten einer Grossstadt. Alleine mit meinen Gedanken. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, hier zu leben. Wie sollte ich jemals am Morgen aufstehen und zur Schule gehen können, ohne darüber nachzudenken, was ich gerade zu Hause tun würde, hätte ich diesen Vertrag nie unterschrieben. Wie würde ich jemals meinen Porridge essen können, ohne an meine Familie zu denken. Physisch war ich in Ottawa, doch meine Gedanken waren irgendwo auf dem Weg in der Luft hängen geblieben. Ich war gefangen in einer Welt zwischen der Schweiz und Kanada.
Ankommen
Doch mit der Zeit begannen die Dinge sich zu verändern. Es schien, als würde ich nicht mehr durch den Takt des Lebens hier stolpern, sondern langsam den Rhythmus des kanadischen Alltags finden. Ich begann zu verstehen, dass ein Teil von mir immer zu Hause sein würde, ein Teil von mir immer mein Leben in der Schweiz vermissen wird. Und manchmal ist dieser Teil sehr
präsent und das kann weh tun. Doch mit der Zeit lernte ich, dies nicht als eine Schwäche, sondern wie ein Geschenk zu betrachten. Es gelingt mir noch nicht immer. Doch sehr oft kann ich diesen Schmerz als etwas Schönes betrachten, als Anker und Verbindung zu meinem Zuhause, und gleichzeitig das kanadische Leben hier aufnehmen und geniessen. Denn diese Wochen und Monate werden nie zurückkommen. Deshalb habe ich mir etwas vorgenommen – etwas, das ich nicht ganz definieren kann und sich wohl in den verschiedensten Facetten zeigen wird: Ich will leben.
                                    
        
        
        
        
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