Radikale Menschlichkeit
Es sind düstere Zeiten, in denen wir leben. Kriege, Krisen und Katastrophen. Vor allem haben, wieder einmal, Feindbilder Hochkonjunktur. Was auch damit zu tun hat, dass sich viele von uns angesichts der Weltlage ohnmächtig fühlen, überfordert und orientierungslos. Davon profitieren jene, die laut sind, während wir uns zurückziehen, die ein «entweder bist du Freund oder aber Feind» predigen, während wir uns im Abwiegeln trösten.
Zum Feindbild schlechthin gehört inzwischen «der Flüchtling». Glaubt man gewissen politischen Kreisen, ist er für alles Mögliche verantwortlich: für die wirtschaftliche Lage, die Kriminalität, ja sogar für den Untergang der christlichen Kultur. Ob dem tatsächlich so ist, ist zweitrangig. Wirkungsmächtiger ist das Bild, das sich in unseren Köpfen eingenistet hat und von Vorurteilen durchsetzt ist.
So weit die schlechte Nachricht. Die gute ist: Wir können dem widerstehen. Indem wir uns eine Haltung zulegen, die ich «radikale Menschlichkeit» nennen möchte. Sie besteht darin, im Gegenüber nicht bloss einen Flüchtling zu sehen, oder auch nur einen Muslim, eine Jüdin, einen Obdachlosen oder eine Süchtige, sondern allererst und konsequent: den Menschen.
Das klingt einfach, ist es aber nicht. Denn radikal menschlich sein bedarf der Übung, und zwar immer wieder aufs Neue.
Radikale Menschlichkeit verlangt von uns, den einzelnen Menschen aus den ewig selben Bildern in unserem Kopf zu befreien, ihn auf neue Weise wahrzunehmen – und damit auch anders über ihn zu reden, von ihm zu erzählen. Wie beispielsweise von Sultan Abdullah, der nicht bloss ein afghanischer Geflüchteter ist, sondern ein verheirateter Mann und Vater dreier Töchter, der schon früh Reporter werden wollte, nachdem er als Kind auf einer Müllhalde eine Plastikkamera fand – und der für sein Leben gerne Spaghetti isst.
Mit anderen Worten: Radikale Menschlichkeit fordert uns auf, hartnäckig alle Vorurteile zu hintersinnen, indem wir unsere Vorstellungskraft bemühen und uns fragen: Könnte unser Gegenüber nicht auch anders sein, als wir uns das in unseren Köpfen zurechtgelegt haben? Allein diese einfache Frage – «Könnte es anders sein?» – hat etwas wahrhaft Subversives. Denn sie lädt uns ein, uns in die Lage des Gegenübers zu versetzen, mit ihm mitzufühlen. Was uns daran erinnert, wie ähnlich wir alle einander doch sind. Vielleicht gleichen wir uns nicht in der Art zu denken, zu reden, zu glauben oder zu lieben, wohl aber darin, dass wir alle verletzlich sind. Und die Einsicht, dass die Verwundbarkeit des anderen immer auch unsere eigene Verwundbarkeit ist.
Radikale Menschlichkeit