Schlüssel auf dem Weg nach Rom
Alle Wege führen nach Rom. Meiner begann vor fünf Jahren in Lausanne, wo die Via Francigena den Jakobsweg kreuzt. Im Mai 2024 ging es von Fidenza, wo ich damals angelangt war, weiter nach Rom.
An meinen Rucksack hängt nun neben der Muschel ein neues Symbol: In einem goldgelben Kreis sind zwei gekreuzte Schlüssel, ein silberner und ein goldener, dargestellt. Sie erinnern sich, Jesus sprach: «Du bist Petrus und ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben, und alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel verbunden sein, und alles, was du auf der Erde lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.»
Zu Fuss auf Entdeckungsreise: jeden Tag den Rucksack packen, weitergehen, nur das Allernötigste mitnehmen. Unter freiem Himmel unterwegs im eigenen Rhythmus. Kontakt mit der Erde: Steine, Wurzeln, Asphalt; verlassene Dörfer und Brachland. Wiesen, dichte Wälder, weite Horizonte, erloschene Vulkane, Seen und Flüsse, Küste und Plantagen: Reis, Oliven, Trauben, Haselnüsse; Städte mit klangvollen Namen, Lucca, San Gimigniano, Siena … All dies lebt jetzt in mir.
Während das Schlüsselsymbol mit mir in Richtung Petersdom zum Grab des Apostels geht, erschliesst sich seine Bedeutung. Ein goldener und ein silberner Schlüssel sind uns allen gegeben: Der eine steht für Himmel, der andere für Erde, der eine vielleicht für Sonne, der andere für Mond, der eine für Tag und der andere für Nacht, der eine für Bewusstsein, der andere für Traum. Gekreuzt verbunden, heben sich Gegensätze auf, im Allumfassenden geborgen.
Schlüssel passen zu einem Schloss, geben Vollmacht, Türen zu öffnen und zu schliessen. Gold und Silber: Schweigen oder Reden? Welche Schlüssel sind mir gegeben?
Viele Schlüssel verschaffen mir Zugang zu Herbergen, sind Schlüssel der Gastfreundschaft und des Vertrauens: Es ist gut, dass es Leute am Weg gibt, die bereit sind, andere zu empfangen und zu beherbergen; es tut gut, willkommen zu sein, manchmal sogar mit dem Ritual der Fusswaschung und anschliessendem gemeinsamen Essen. Und es tut gut, sich ausruhen zu dürfen und Kraft für den nächsten Tag zu schöpfen. Dann heisst es wieder, den Schlüssel abzugeben, einen Ort hinter sich zu lassen und sich zu verabschieden. Tägliche Übung: binden und lösen.
Ich erkenne, dass Sprachen Schlüssel sind. Mir ist glücklicherweise auch die Sprache der Musik gegeben. Meine kleine Flöte ist auch diesmal mit dabei. Sie zwitschert mit den Vögeln und erfreut Menschen, bringt sie gar zum Tanzen, rührt manchmal zu Tränen. Auch sie ist Türöffnerin und Brückenbauerin. «Canta e cammina» (singe und gehe, Inschrift auf einem Stein) nehme ich mir gerne zu Herzen und dichte ein kleines Lied, das wir gemeinsam singen:
siamo tutti pellegrini
camminando e cantando
camminando e cambiando.[1]
ultreīa et suseīa
Deus adiuva nos[2]
Text: Catherine Fritsche; Foto-Illu: Swantje Kammerecker und Yasmin Wild
[1] Wir sind alle Pilger, gehend und singend, gehend und verändernd (wandelnd)
[2] Pilgerlied aus Conques (Chemin de Saint Jacques de Compostelle, Camino Podiensis): Geh’ weiter und über dich hinaus, Gott helfe uns
Schlüssel auf dem Weg nach Rom